Die Alpbach Chronik 1999

29.09.1999 Torkopf (2116m)

Der Torkopf ist ein ziemlich unbedeutender Nebengipfel des Steinbergmassivs und das bescheidene Ziel meiner unwiderruflich letzten Bergwanderung in dieser Saison.
Die große Herausforderung besteht wahrscheinlich nur darin, einen passablen Pfad hinauf zu finden. Ein solcher existiert jedoch nicht, wenn ich meiner Wanderkarte Glauben schenke (was ich nicht tue).
Der Weg führt mich in jedem Fall erst einmal durch den Lueger Graben. Dort zeigt sich bald der Torkopf zur Rechten, von der Form her sollte er eigentlich Spargelkopf oder Peter Enis-Kopf heißen. Von Norden her ist kein Staat zu machen, hier schreckt die quasi senkrechte Felswand ab.
Es ist sicherlich kein Zufall, daß es fast immer die Nordhänge der Berge sind, die so schroff und bedrohlich ausfallen. Muß irgendwas mit dem Mechanismus der Erosion zu tun haben.
Die einzig praktikable Stelle für eine Besteigung scheint mir der Südhang zu sein. Also weiter latschen bis zur Steinberger Alm, wo der Graben abrupt endet. Auch hier ist keine Kuh mehr zu sehen. In Reith fand am Wochenende das große Abtriebsspektakel statt. Erinnert den Rheinländer verdächtig an Karneval, nur daß die Kühe verkleidet sind. In Alpbach läuft der Almabtrieb vollkommen unkoordiniert ab, da muß man zu dieser Zeit immer damit rechnen, hinter der nächsten Kurve eine Kuh auf die Motorhaube zu bekommen.
Das Wetter verschlechtert sich allmählich, die Sonne kommt kaum noch durch den dichten Altostratus zum Vorschein, früher oder später wird es wohl regnen. Kühl ist es schon, ein Hauch von Herbst liegt endlich in der Luft. Kein Insekt, das mich nervt und auch das einstmals satte Grün der Grashänge ist in den letzten Tagen immer mehr einem leidenden Braun gewichen. Das alljährliche große Sterben hat schon begonnen, morgen werde ich Alpbach verlassen wie eine Ratte das sinkende Schiff.
Hinter der Alm schlängelt sich ein Senioren-Highway nach Nordwesten den Hang hinauf auf den Torkopf zu. Auf der anderen Talseite mache ich einige Gestalten aus, die sich, offensichtlich vom Großen Beil kommend, auf den Gressenstein zu bewegen. Da war ich schon.
Die Gehe ist nicht besonders anstrengend und bei dem frischen Wetter triefe ich ausnahmsweise einmal nicht vor Schweiß. Nach mehreren Schlenkern endet der Highway auf einem gut zweitausend Meter hohen Sattel. Eine beeindruckende Szenerie eröffnet sich mir. Blick auf Lämpi und die Beile Umsäumt von den schroffen Hängen des Steinbergs entdecke ich hier in der sogenannten Steinberger Grube einen malerischen Bergsee. Von der Felsklippe oberhalb habe ich einen bombastischen Ausblick nach Osten auf den Lämpi, die beiden Beile und das Sonnjoch. Was geschähe wohl, wenn ich von hier oben aus in den See spränge? Würde ich unter Wasser an den Felsen zerschellen oder mein Herz durch den Kälteschock aussetzen? Für einen Nichtschwimmer wie mich sind das natürlich rein akademische Fragen. Morbide Gedanken, die sich in den einsamen Bergen immer wieder entwickeln.
Ich wende mich wieder meinem Vorhaben zu und suche einen Weg auf den Torkopf, der nun zum Greifen nahe ist. Ein Trampelpfad gen Westen führt an einer Wellblechhütte vorbei und später an einer Ruine. Sieht irgendwie militärisch aus, als hätten die Nazis hier früher an geheimen Waffen herumgebastelt. Gewohnt hat hier bestimmt keiner freiwillig.
Ich gehe den Südhang des Torkopfes ab, in der Hoffnung, menschliche Spuren zu entdecken. Der Hang ist nicht übermäßig steil, aber stark mit Heidekraut bewachsen, so daß man nur schwer vorwärts kommt. Immer wieder falle ich auf eine anfängliche Lücke in der Vegetation herein, um dann genervt wieder umzukehren, weil ich in dem folgenden Dickicht nicht weiterkomme, herumstolpere und mir die mühsam in der Gebirgssonne gebräunten Beine verschramme. Das Gipfelkreuz Schließlich werde ich doch noch fündig. Ganz am Ende der Grube führen Trampelspuren von Südwesten aus auf den Gipfel. Die paar fünfzig Meter sind schnell überwunden und der geräumige Gipfel erwartet mich.
Es gibt hier zwar kein Gipfelkreuz mit Journal und Stempel, dafür aber eine Vermessungssonde und ein improvisiertes Totem, bestehend aus einem Holzpflock mit an geklebtem Kronkorken(!), befestigt durch einen Steinhaufen. Irgendwie nett und unbürokratisch.
Ich begehe wahrscheinlich kein Sakrileg, wenn ich meinen Kugelschreiber zücke und (als erster) meinen Namen auf dem Pflock verewige: "Stefan 29.9.99". Ich habe ja schon einige Gipfelbücher vollgekritzelt, doch hier, auf diesem völlig verlassenen Berg geht es mir zum ersten mal richtig nahe. Dies war heute mein letzter Tag in den Bergen, einer Welt, die ich zunächst ignoriert, dann gefürchtet und endlich lieben gelernt habe.
Morgen um diese Zeit bin ich nach beinahe zehn Wochen wieder Flachländer, mit allen Konsequenzen. Lärm, Streß, U-Bahn fahren, Kultur, Regenzeit und Weihnachten. Harte Anforderungen an mein Adaptionsvermögen.
Passend zu meinen Herbstdepressionen haben mir die Berge noch ein kleines Abschiedsgeschenk bereitet. Die Tauern, die mich auf vielen meiner Touren begleitet haben und mir stets als Ikonen der alpinen Unveränderlichkeit erschienen, zeigen sich mir heuer in merkwürdig verwandelter Gestalt. Schnee Während mir der prasselnde Regen in der vergangenen Nacht den Schlaf versüßt hat, muß es wohl weiter im Süden, auf den Dreitausendern, fleißig geschneit haben.
Neuschnee, noch strahlend weiß und unschuldig wie ein Neugeborenes und das Ende jeglichen Sterbens. Nicht so ein halbes Jahr altes, angerußtes Cocktaileis, wie es hier noch teilweise herumliegt. In Kürze wird der Winter auch in den Alpbacher Bergen Einzug halten, nur werde ich das nicht mehr erleben. Wahrscheinlich ganz gut so, dann wimmelt es schon bald vor Schi-Heinis, die in schockfarbenen Plastikanzügen vollgedröhnt die Pisten runterdonnern und diese herbe Naturschönheit hier bestimmt nicht so zu würdigen wissen wie ich.
Ich bin allmählich durchgefroren, wird Zeit für den Abstieg. Zurück nehme ich den Weg aus der Grube, der ohne viel Höhenverlust erst unter dem unbezwingbaren Steinberg, später unterhalb des Galtenbergs verläuft. Der Pfad ist teilweise sehr eng und führt über einige glitschige Furten. Routine. Als ich die Mareitalm erreiche, kommt tatsächlich die Sonne wieder zum Vorschein. Ich bin schon ein toller Meteorologe!
Nach insgesamt fünf Stunden bin ich wieder daheim und beginne mit dem Packen.

Fazit: a sentimental journey

Unterhaltungswert:   Schwierigkeitsgrad: 


[Titelseite]

© Stefan Maday 5.10.2001