Ortler Report 2006
4. Tag: Hintere Schöntaufspitze (3325 m), der dritte 3000er – 7.8.2006
Da
das Wetter auch am folgenden Tag noch Kälte, leichten Regen und
Wolken bereithält, planen wir für heute die Hintere Schöntaufspitze.
Denn dieser Gipfel gilt als „schnellster“ Ortler-Dreitausender.
Von Sulden ist fällt klarer Sicht der weiße Schopf der Schöntaufspitze über
dem äußeren Rosimtal ins Auge – ein kammnaher Gletscher,
der den Gipfel im Norden schmückt, sorgt für das charakteristische
Bild. Darunter fällt eine Felsflanke in Hochkare ab, die nahezu
nie von Bergsteigern betreten werden. Die Südseite ist das krasse
Gegenstück dazu. Dort ist das Gelände sanft und weiträumig – und
dient im Winter als hochalpine Pistenregion. Das ist die Aufstiegsroute.
Wir nehmen mit der Seilbahn die ersten Höhenmeter zur Schaubachhütte
auf 2580 m. Zu Fuß vom Tal in knapp zwei Stunden erreichbar.
Mit leichtem Gepäck, dazu gehören heute nur Regenjacke, Stöcke,
Trinkwasser und Fotoausrüstung, sollte uns heute eine Blitzbesteigung
gelingen.
Bei Ankunft an der Bergstation empfängt Stefan und mich ein gewaltiges
Bild: ganz nahe der wild zerklüftete Suldenferner und dahinter,
scheinbar unendlich hoch die Königsspitze (3859 m) mit der Nordwand
fast im Profil und dem 1100 m hohen Ostbollwerk. Selbst heute, bei
nur gelegentlichen Einblicken bei Aufriss der Wolkendecke sehr beeindruckend.
Dank Seilbahn tummeln sich hier viele Turnschuhtouristen. Doch deren
Ziel scheint eher die große bewirtete Madritschhütte zu
sein, die wir auf halbem Weg 151 in Richtung Madritschjoch passieren.
Bis dorthin ist der Weg breit und leicht begehbar, führt er doch
großteils über breite Pistenschneisen. Das Joch (3123 m)
erreichen wir nach nur 1,5 Stunden, das letzte Stück steil über
Schutt und Schnee.
Inzwischen herrscht hier starker Wind, die Wolkendecke unmittelbar über
uns. Hier eröffnet sich der Blick ins Madritschtal und Martelltal,
auf dessen Osthängen wir ein weiteres unserer geplanten Ziele
sehen. Über das Madritschjoch finden Wanderer eine kurze Verbindung
von Martell- und Suldental – mit dem Wagen sind diese Täler
ca. 80 km voneinander entfernt.
Am heutigen Tag sehen wir niemanden, der zum Gipfel hinaufsteigt,
jedoch einige, die ihre Besteigung vorzeitig abbrechen. Obwohl der
Wind nun in heftige Sturmböen umschlägt, entschließen
wir uns zu einem Versuch. Der sonst eher leichte Weg nach Norden über
den erst ausgeprägten Kamm wird durch den 30-50 cm Neuschnee zusätzlich
schwierig, da fast vollkommen unkenntlich. Dank guter Ausrüstung
erreichen wir nach 40 Min. über den breiten Rücken und eine
weiträumige Gipfelfläche die Schöntaufspitze. Bei inzwischen
heftigem Sturm und nur wenigen Meter Sicht müssen wir immer darauf
gefasst sein, davon geweht zu werden. Stefan erinnert so eingepackt
fast an einen Polarforscher im Schneesturm.
Den höchsten Punkt endlich erreicht beeindruckt uns zwar nicht
die hier ansonsten herrliche Aussicht auf die Ortlergruppe, nein, die
bleibt gänzlich aus. Der Gipfel überrascht uns jedoch mit
einem seltenen Phänomen. Auf ca. 20 qm genau auf dem höchsten
Punkt herrscht plötzlich absolute Windstille, obwohl der Sturm
drum herum geradezu tobt. Wie im Auge eines Hurrikans. Faszinierend!
Eine Belohnung für den Gipfelstürmer. Wieder ein ungewöhnliches
Naturerlebnis. Oder achte ich hier mehr darauf? Die Achtung
vor der Natur. Das ist es! Mehr Respekt, weil ich ihr ausgeliefert
bin. Und
meine Sinne werden scheinbar trainiert: Sehen, hören, spüren
- und speichern!
Eine mit Schnee und Eis umhüllte Messstation mit deutlich horizontaler
Ausrichtung der Eisformation erinnert an arktis-ähnliche Wind-
und Temperaturverhältnisse. Daher bleiben wir nicht lange. Den
Rückweg vom Gipfel finden wir nun leichter über unsere eigenen
windverwehten Spuren vom Aufstieg.
Zwei weitere Bergsteiger haben den Aufstieg gewagt und kommen uns
auf halbem Wege entgegen. Wir erreichen bald das Madritschjoch und
legen den Abstieg bis zur Madritschhütte schnell zurück,
um uns hier bei einer leckeren Leberknödelsuppe aufzuwärmen.
Gut gestärkt ist die leichte Wanderung zur Schaubachhütte
bei aufklarendem Himmel eine willkommene Abwechslung von nur 60 Minuten.
Von dort gondeln wir ins Tal und lassen den Abend bei Pizza und Weizen
in der Bärenhöhle ausklingen.
An diesem Abend bin ich sehr nachdenklich. Tagsüber ist man hier „eins“ mit
Fels, Eis, Luft und Sonne. Und die Zeit scheint langsamer zu vergehen.
Durch viele Eindrücke, aber auch durch Stille und Einsamkeit.
Ich spüre jetzt noch den kalten Granit an den Fingerspitzen. Fühle
tagsüber Furcht – und gleichzeitig Glück. Komisch,
wie nahe das beieinander liegt.
Während die Anstrengung noch in allen Muskeln vibriert – planen
wir schon das morgige Gipfelziel. Wie schon die Einheimische sagen: "Der
Berg ruft". Was ist das genau für ein Verlangen? Sehnsucht
nach landschaftlicher Schönheit? Nähe zur Natur? Abenteuerlust?
Das "eins" werden mit den Elementen?