Die Alpbach Chronik 1999

09.08.1999 Gratlspitz (1894m)

Montag Mittag: die Sonne brennt, es ist heiß und knochentrocken. Kein Wölkchen am Himmel, was für den August hier ungewöhnlich ist.
Heute wage ich den Aufstieg auf die Gratlspitz, die mit ihren schroffen braunen Felswänden trotzig über Alpbach thront, als wolle sie mich herausfordern. Will sie auch.
Ich denke, ich werde es von Westen über den Kamm versuchen. Mal schauen, wie weit ich so komme. Ein beschwerlicher Anstieg bei dieser Hitze, auf halbem Weg zur Bischoferalm ist mein T-Shirt vollgesogen. Gratlspitz von Alpbach aus Die Alm hat Ruhetag! Ich fürchte, daß mir schon bald das Wasser ausgehen wird. Nirgendwo eine Quelle oder ein Brunnen, dieser Berg könnte auch in der Sahara stehen. Endlich runter vom Senioren-Highway und bereit für den Anstieg zum Gipfel.
Es geht ein quälend steiles Waldstück hoch, es wimmelt von Insekten, die in meinem Schweiß baden wollen. Dann felsiges Gelände, ein Klettersteig und endlich oben. Ernüchterung: zwischen mir und dem Gipfelkreuz liegen noch einige Höhen und Tiefen. Ich werde bestimmt noch eine Stunde brauchen. Dafür läuft es sich hier oben angenehmer, durch eine phantastische Landschaft, bedeckt mit niedrigen verkrüppelten Kiefersträuchern. Latschen durch Latschen.
Der Weg führt jetzt an nackten Steilwänden vorbei, mir wird plötzlich klar, daß ein kleiner Stolperer hier unangenehme Folgen haben kann. Dieser flüchtige Gedanke beginnt in meinem Kopf wie ein Tumor zu wuchern. Schritt für Schritt wächst meine Angst, ich kann mich kaum noch auf den Weg konzentrieren. Als es unversehens auch noch steil aufwärts geht, versagen meine Nerven, ich muß mich setzen.
Bewegungslos, an einen Strauch geklammert, überdenke ich meine Lage. Möglichst nicht nach unten schauen, sonst dreht sich mir der Magen um. Ich bin für diese Bergwelt nicht geschaffen! Ein Blick auf die Uhr, es bliebe genug Zeit zum Umkehren. Doch der Weg ist weit und meine Wasserflasche längst leer. Ich bin trocken wie ein Martini. Ein Blick nach Osten, hundert, zweihundert Meter entfernt, das Gipfelkreuz, daneben zwei Gestalten. So steil können die Grasalpen sein! Aber dort ist gar kein Weg mehr zu erkennen, nur noch steiler Fels. Eine Zigarette macht mich schlau. Regel 2: Der Gedanke an das, was Böses kommen mag, versaut dir nur den Tag. Die beiden Gestalten haben den Gipfel in meiner Richtung verlassen, ich kann sie zwar nicht sehen, höre aber bald ihre Stimmen. Ich versuche, einen coolen Eindruck zu machen und nicht wie ein Nichtschwimmer auf dem Dreimeterbrett zu wirken, als die beiden mich erreichen.
Ein älteres Ehepaar, es grüßt und er bemerkt in vorbildlichem Sächsisch: "Nu sinse bald da, nich wahr?" Ich setze meinen Weg fort und bin ein paar Minuten später ohne Probleme auf dem Gipfel, erleichtert. Kurz nach mir kommt eine Tirolerin total fertig an, sie muß wohl hier hoch gejoggt sein. Ich meine "Schön, wenn man erst mal oben ist!", darauf stöhnt sie nur "Wui! Wui!".
Der Abstieg über den Hausberg ist nach dem Erlebten eher easy going, und nach anderthalb Stunden liege ich in den Armen einer eiskalten Dose Coke.
Regel 3: Hunger ist nichts. Durst ist alles. Hör auf deinen Durst! Die ganz große Kunst besteht sogar darin, genau das mitzunehmen, was man tatsächlich braucht. Nicht mehr, nicht weniger. Diese Aussage ist nicht trivial, ein analoges Problem existiert in der Raketentechnik.

Fazit: der "kürzeste" der vier Alpbacher Hausberge, aber nicht ohne, so eine Art "kloaner Koaser". Auf alle Fälle ein tolles Erlebnis.

Unterhaltungswert:   Schwierigkeitsgrad: 


22.08.99 Großer Galtenberg (2424m)

© Stefan Maday 5.10.2001